Leseprobe: Die Aventüren der Bonnie Bahookie

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Alte Schachteln

Glenna öffnete die Tür gekonnt mit ihrem Ellenbogen und trat in das Esszimmer. Der kleine Raum beherbergte sechs Tische, allesamt lieblich dekoriert mit Stickdeckchen und künstlichen Blumen, und gut die Hälfte davon war besetzt.

Glenna setzte die Teller mit Eiern, Speck, gebackenen Bohnen, Black Pudding und was sonst zu einem vollwertigen irischen Frühstück gehörte vor dem norwegischen Pärchen ab.

»Bitte sehr, ihr Lieben. Braucht ihr noch etwas?«, fragte sie und legte mütterlich die Hand auf die Schulter der jungen Frau.

Diese erwiderte die Geste mit einem strahlenden Lächeln.

»Vielen Dank, Frau Alexander. Alles perfekt.«

»1975«, erklang eine etwas raue Frauenstimme vom Nebentisch. »Da haben wir das Stewart-Haus eröffnet, mein Mann und ich. Es war schon immer Edwards Traum gewesen. Ein eigenes Bed and Breakfast – Gott hab ihn selig. Also haben wir es einfach gemacht.«

Glenna drehte sich schmunzelnd um. Die Gäste am runden Tisch hingen an den Lippen der älteren Frau, die unter ihnen saß. Ein junger Mann schien etwas sagen zu wollen, aber sie ließ es nicht so weit kommen.

»So waren wir damals. Eine Idee im Kopf und zack! – waren wir Besitzer dieses kleinen Häuschens.«

Zack von wegen, dachte sich Glenna.

Edward musste erst eine Krebsdiagnose kriegen, bevor sie sich ihren Traum endlich erfüllt hatten.

»1991 ist mein liebster Edward dann von uns gegangen. Genau in dem Jahr ist Glenna in unser schönes Dorf gezogen und glücklicherweise wusste sie, wie man den Kochlöffel schwingt. Ganz im Gegensatz zu mir. Eins führte zum anderen. Seither führen also wir beiden alten Schachteln das Stewart-Haus.«

»He«, warf Glenna ein und stemmte die Hände in die Hüften. »Sprich von dir selbst. Ich bin gerade mal knackige achtzig.«

Die Gäste lachten, und Glenna zwinkerte ihnen zu. Ein warmer Fleck rührte sich auf ihrem Rücken und bewegte sich langsam von der Mitte hin in Richtung ihrer rechten Schulter.

»Untersteh dich«, zischte sie, ohne ihr Lächeln zu unterbrechen.

Sie nahm einen der Teekrüge auf dem Tisch, wog ihn in den Händen und nahm ihn an sich.

»Ich bringe euch mal frischen Tee«, sagte sie und ging damit zurück in die Küche.

Während sie den Kessel mit Wasser füllte, bewegte sich der warme Fleck weiter über ihre Schulter, sodass er auf ihrer Brust zu liegen kam.

Sie stellte den Kessel auf den Herd und schob ihr grünes Seidenfoulard etwas zur Seite, sodass sie sich selbst in das faltenreiche Dekolleté blicken konnte. Quer darüber prangte in schwarzer Farbe die Tätowierung eines thailändischen Drachen. Wer ganz genau hinsah, mochte das leichte Hin- und Herzucken seiner Barthaare erkennen.

»Willst du etwas sagen, Jamie?«, fragte sie spitz.

›Käme mir nicht in den Sinn, Bonnie.‹

Das lange Maul bewegte sich passend, und die Worte waren physikalisch hörbar, aber über eine Mimik verfügte der Drache nicht wirklich. Trotzdem spürte Glenna sein Schmunzeln förmlich.

»Die Achtzig ist nicht so weit weg von der Wahrheit, wie du tust.«

›Ich tue gar nichts‹, protestierte er. ›Achtzig, hundertsiebzehn … Die Menschen machen immer so ein Brimborium um diese paar läppischen Jährchen. Ich sehe da keinen Unterschied.‹

Sie drapierte das Halstuch wieder über ihrem Ausschnitt, sodass niemand die wandernde Tätowierung sehen konnte.

»Na also«, sagte sie und nahm das kochende Wasser vom Herd.

›Ich zweifle nicht an der Achtzig, Bonnie‹, fuhr Jamie fort. ›Das tut hier niemand, immerhin siehst du danach aus. Wovon ich nicht ganz überzeugt bin, ist das knackig.‹

»Elender Charmeur«, brummte Glenna zynisch – konnte ein Schmunzeln ihrerseits aber nicht unterdrücken – und füllte das Wasser in die Teekanne.

Eine Stunde später hatten die Gäste das Haus für ihre Tagesausflüge verlassen oder ausgecheckt, und Glenna kümmerte sich um die Küche, als Dorothy eintrat.

Ihre kleine eingefallene Gestalt war fest eingepackt in mehrere Lagen, und obendrüber trug sie eine hässliche knallgelbe Daunenjacke, dazu ein kariertes Tuch, das sie sich um den Kopf gebunden hatte, und Handschuhe.

»Haben wir September in Irland oder Hochwinter im tiefen Sibirien?«, fragte Glenna und wischte sich die nassen Hände an der Schürze ab.

»Sei froh, dass du noch ein paar Fettreserven hast, Glenna.« Das Halstuch bewegte sich über Dorothys Lippen, und ihre Brille beschlug an den Rändern vom Wasserdampf der Geschirrspülmaschine. »Wenn du mal so alt bist wie ich, bist du dankbar für jedes Gramm Isolation.«

Glenna öffnete das Schränkchen, wo sie den Stoffbeutel mit dem alten Brot verstaut hatte.

»Grüß die Schwäne von mir«, sagte sie und reichte ihn Dorothy.

»Sie sind schon richtig groß. Vor wenigen Wochen waren sie acht pelzige Flauschbällchen, jetzt haben sie ganz lange Hälse.«

Dorothy redete weiter, hatte die Küche aber bereits verlassen, und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

Glenna schüttelte lächelnd den Kopf.

Dorothy war alles, was man sich für eine Witwe in dem Alter erhoffen konnte. Für eine normalsterbliche Witwe in dem Alter zumindest.

Eine wohlige Wärme breitete sich in Glennas Brust aus. Seit fünfundzwanzig Jahren hatte es keinen Tag gegeben, an dem sie die Energie, die dem dünnen, zerbrechlichen Körper innewohnte, nicht bewunderte.

Glenna betrachtete die langen knochigen Finger ihrer Hand, die durch den Abwasch noch runzliger aussahen als sonst. Dann schnalzte sie mit der Zunge und beeilte sich, den Rest der Arbeit zügig hinter sich zu bringen. Sie hängte die Schürze an ihre Stelle zum Trocknen und verließ die Küche auf der anderen Seite in Richtung Treppenhaus.

Im Dachgeschoss holte sie den Schlüsselbund hervor, den sie an einer Kette um ihren Hals trug, und öffnete mit dem größten der drei Schlüssel die Tür zu ihrer eigenen kleinen Wohnung.

Die nächsten Stunden gehörten ganz ihr.

Zuerst nahm sie sich Zeit, in ihrer kleinen Küche die perfekte Tasse Tee zu kochen. Loser Assam, drei Minuten lang gezogen mit einem Fingerbreit Milch in der Tasse, ohne Zucker oder Honig.

Während sie beobachtete, wie das Wasser langsam die Farbe der Teeblätter annahm, löste sich die Anspannung in ihren Schultern, und Ruhe breitete sich in ihr aus. Sie füllte den Tee in die vorbereitete Tasse, legte zwei selbst gebackene Biskuits auf ein Tellerchen und trug beides auf einem Serviertablett in einen kleinen fensterlosen Raum.

Sie stellte das Tablett auf das Beistelltischchen in der Mitte des Raumes und wandte sich dann nochmals um, um die Tür hinter sich zu schließen. Automatisch berührte sie kurz das ausgeblichene Plakat der rothaarigen Schönheit an der Innenseite der Tür, dann trat sie an das Bücherregal mit den Dutzenden in Leder gebundenen Büchern. Jedes davon trug eine Jahresprägung, angefangen im Jahr 1923 bis hin zum aktuellen Jahr 2017.

Sie fuhr mit ihren Fingern über die Buchrücken und zog aus einem reinen Bauchgefühl das Buch mit der Beschriftung 1928 aus dem Regal.

Damit setzte sie sich in den Sessel, dessen lederne Armlehnen bereits rissig waren, und schlug es irgendwo in der Mitte auf.

»Oh«, sagte sie, als sie den ersten Eintrag sah, und ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer.

›Was? Was ist? In welchem Jahr sind wir?‹, fragte Jamie.

Sie legte die Finger auf ihre Lippen und kicherte leise.

»1928. Der ›Bal des Quat’z’Arts‹ in Paris.«

›Ah, davon habe ich gehört. Muss ganz schön hoch hergegangen sein auf diesen Bällen.‹

»Kann man so sagen«, sagte Glenna und legte den manikürten Nagel ihres Zeigefingers auf das Datum vom 29. Juni 1928.

›Du warst da? Wie das? Ich dachte, der Ball sei nur für die Studenten der vier Künste?‹

»Ach, Jamie«, sagte Glenna etwas tadelnd. »Fragst du mich das wirklich? Die unwiderstehliche magische Bonnie Bahookie?«

Sie lehnte sich im Sessel zurück und begann vorzulesen.

»Der morgendliche Umzug nach dem Ball hat sein Ende vor der Oper genommen, und wir sind zu Gabriel nach Hause gegangen. Er und Létoile schlafen bereits tief und fest, während ich diesen Eintrag verfasse.«

Es brauchte nicht mehr als das, da war die Erinnerung aufgefrischt. Glenna konnte den Jazz hören, spürte förmlich ihre schmerzenden Füße, und das Salz des Schweißes der Tanzenden kitzelte in ihrer Nase. Nicht auf die eklige Art, auf die aufregende, aphrodisierende Art, die auch heute noch ein Prickeln durch ihren ganzen Körper ziehen ließ.

Sie schloss die Augen, während sie aus ihrer Erinnerung heraus weitererzählte.


»Bonnie!«, rief Létoile lachend. »Nicht so schnell!«

Bonnie verlangsamte ihren Schritt und streckte die Hand nach Létoile aus.

»Es ist erst elf Uhr, Bonnie«, sagte Gabriel, der an Létoiles anderer Hand hing. »Der Ball dauert noch Stunden, kein Grund zur Eile.«

Sie hatten ja recht. Létoile hängte sich bei ihrem Arm ein und zwang sie dazu, langsamer zu gehen.

Gabriel und Bonnie trugen beide dünne Ledersandalen, Létoile hingegen ging barfuß. Um ihre Knöchel schlangen sich dünne Ketten und Lederbänder, auf die sie ab und zu trat. Diese würden schon bald abreißen, keine Frage. Der Rest ihres Kostüms jedoch war atemberaubend, und Glenna konnte nicht anders, als immer wieder auf den stählernen Spitz-BH zu starren, der direkt auf ihrer nackten blassweißen Haut lag. Dazu trug Létoile einen passenden nietenbesetzten Keuschheitsgürtel. Beides hatte sie sich beim profilierten Lingerie-Hersteller Yva Richard machen lassen für eine ihrer Bühnennummern. Um ihren braunen Bob, der bis zu den Ohren reichte, lag eine Kette mit falschen antiken Münzen, die bei jeder Bewegung klimperten. Dazu trug sie ein Holzschwert bei sich, das sie ebenfalls dem Fundus des Cabarets entwendet hatte.

Das Kostüm war perfekt.

Glenna selbst hatte sich bei dem Thema voll auf Felle gestützt. Diese bedeckten bei ihr aber auch nicht viel mehr, nur untenrum trug sie zusätzlich einen Rock aus Leder, der ihr bis zur Mitte der Oberschenkel reichte. Ihre roten wellenden Haare verpassten dem Bild die unbändige Note, die es brauchte.

Gabriel hingegen hatte sich damit zufriedengegeben, sich ein Stück Leinenstoff um die Hüfte und zwischen die Beine zu wickeln, und hatte sich mit zahlreichen Ketten mit Anhängern aus Glas und falschem Gold behängt, die auf seiner braun gebrannten nackten Brust baumelten. Die schwarzen Krausen hatte er ausnahmsweise nicht geglättet, und sie standen unfrisiert in alle Richtungen ab.

Wenn sie so nicht dem Thema entsprechend aussahen, wusste Bonnie auch nicht weiter.

Sie erreichten den hell beleuchteten Eingang. Glühbirnenbuchstaben auf geschwungenen Tafeln bewarben den Salle Wagram. Das schmiedeeiserne Tor unter dem ausladenden Vordach im Art-déco-Stil war geöffnet, und Leute drängelten sich dahinter auf dem Teppich, vermutlich um sich die heiß gewordenen Köpfe zu kühlen.

Vor dem Tor stand ein in Ziegenfelle gekleideter Mann, und auf seiner Brust prangte die schwere Plakette, die ihn als Angehörigen des Organisationskomitees auswies. In diesem Jahr zeigte sie einen grimmig dreinsehenden Mann mit einem langen dünnen Schnurrbart und eine kopfüber unter ihm liegende Frau. Dabei wurde rein gar nichts der Fantasie überlassen.

Der Wächter fasste die drei sofort in den Blick, als sie sich näherten.

»Bonnie«, flüsterte Létoile und zog an ihrem Arm. »Wie sollen wir da reinkommen?«

Bonnie strich ihren Arm ab und lächelte.

»Lass mich nur machen.«

Leichtfüßig tänzelte sie zu dem Türsteher hinüber und zückte in einer Hand das gefaltete Blatt Papier, in der anderen einen Flachmann, wie sie ihn immer bei sich trug.

Der Blick des jungen Mannes wanderte zuerst zum einen, dann zum anderen, und Bonnie strahlte ihn an.

»Was möchtest du dir zuerst ansehen?«

Er lachte und deutete auf das Papier. »Ich muss die Einladung sehen, Mademoiselle.«

»Natürlich«, sagte Bonnie, drehte aber den Verschluss des Flachmanns auf, ohne ihm das Papier zu zeigen. »Zuerst aber einen Schluck. Für den Mann, mit dem undankbarsten Auftrag des ganzen Abends.«

Sie streckte ihm den Flachmann entgegen, und sein glänzender Blick verriet ihr, dass sie bereits gewonnen hatte.

»Ich werde bald abgelöst«, sagte er, aber seufzte schon fast theatralisch.

Bonnie legte ihm den Arm um seine Hüfte und hielt ihm die Flasche vor die Nase. Er erwiderte die Geste sofort, mit der freien Hand nahm er den Flachmann entgegen und setzte ihn an.

Bonnie schloss die Augen und genoss die Sensation, die sie immer verspürte, wenn jemand von ihrem magischen Whisky trank. Für sie fühlte es sich stets an wie Minuten oder länger, während warme Wogen durch sie hindurchfuhren, begleitet von dem feinen Kribbeln in den Gliedern und den Bildern der Erinnerung, die sie in dem Moment noch ein letztes Mal durchlebte. In Wahrheit war es innerhalb einer Sekunde vorbei.

Der Mann hustete und presste sich den Arm auf den Mund, bevor er ihr den Flachmann zurückreichte.

»Was ist das für ein Gesöff?«, fragte er und lachte und hustete gleichzeitig.

»Whisky«, sagte Bonnie und löste sich aus der Umarmung.

Stattdessen hielt sie ihm das Blatt Papier hin.

Er faltete es auseinander und begutachtete es. Dann reichte er es ihr zurück.

»Viel Spaß beim Ball, Mademoiselle.«

Sie warf ihm eine Kusshand zu, dann winkte sie Létoile und Gabriel heran.

Arm in Arm traten sie unter den überdachten Gang und hielten direkt auf die geöffneten Türen des Gebäudes zu.

»Wie hast du das gemacht?«, fragte Létoile und nahm ihr das gefaltete Papier aus den Händen. »Das ist ein leeres Blatt. Wie konnte er das übersehen?«

Bonnie rollte kokett mit ihrer bloßen Schulter.

»Mein Charme, schönste Létoile. Nur mein Charme.«

Gabriel verpasste ihr einen feuchten Kuss auf die Wange und klatschte dann in die Hände, als sie im Eingangsbereich des Salle Wagram ankamen. Bonnie erhaschte einen Blick auf Marmor und weite Spiegel an den Wänden, dann ließen sie sich von der Masse treiben, bis sie den Ballsaal erreichten.

Bonnie verschlug es für einen Moment den Atem, und sie legte die Hand auf ihre Brust. Die Tanzfläche war gefüllt mit Hunderten von Tanzenden. Sie alle waren kostümiert, wenn auch einige von ihnen sich bereits einiger Lagen entledigt hatten. Vielleicht waren sie aber auch direkt barbusig hergekommen. Bonnie reckte den Hals, konnte die Band aber nicht sehen, welche für die schnellen Takte verantwortlich war. Stattdessen blieb ihr Blick an dem prachtvollen, Stuckatur verzierten Trapezgewölbe hängen, von welchem mehrere protzige Kristallkronleuchter hingen. Die Decke wurde von barocken Säulen getragen und samtrote Ziermarkisen hingen zwischen ihnen.

Für einen langen Moment stand Bonnie wie angewurzelt und ließ die Eindrücke über sich hinwegwallen.

Dann packte Létoile sie am rechten Arm, beinahe gleichzeitig mit Gabriel, der seine Hand auf ihre linke Schulter legte.

»Sie spielen den Charleston!«, rief Létoile aufgeregt.

»Das Buffet«, rief Gabriel und deutete in eine Richtung aus dem Ballsaal hinaus.

Bonnie lachte und legte ihren Arm um Létoiles Hüfte.

»Schlag dir den Bauch voll, Monsieur. Die Damen gehen tanzen.«


Glenna blinzelte, als sie aus ihrer Erinnerung gerissen wurde.

»Das war nicht irgendeine Party«, verteidigte sie sich. »Es gab kein berüchtigteres Fest als den Ball der Hochschule der Künste.«

›Kein skandalöseres, meinst du wohl.‹

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Auch das.«

Jamie hatte sie später noch in ihrer wilden Zeit erlebt, aber nichts war jemals wieder an die Leichtherzigkeit und Freizügigkeit von Paris in den Zwanzigern herangekommen. Nie hatte sie sich freier und unbekümmerter in ihrem weiblichen Körper gefühlt als zu dieser Zeit.

Zugegeben, gerade wenn sie an den Bal des Quat’z’Arts zurückdachte, schauderte sie nicht nur aus wohliger Erregung. Bei der jährlichen Wahl eines Mottos und der Umsetzung desselben waren fehlender Respekt gegenüber fernen und teilweise vergangenen Kulturen und die unangemessene Aneignung derselben nie kritisch hinterfragt worden. Weder beim Organisationskomitee noch bei den Gästen, wie sich Glenna selber reumütig eingestehen musste.

Kopfschüttelnd benetzte Glenna Zeigefinger und Daumen und blätterte um. Sie überflog den Bericht zum Ball, lächelte hie und da und runzelte plötzlich die Stirn.

»Hm«, machte sie überrascht.

›Was ist?‹

»Nichts«, murmelte sie und las ein paar Zeilen weiter. »Gabriel hat sich während des Umzugs in den Morgenstunden das Handgelenk gebrochen.«

›Und?‹

Glenna schloss das Buch und blickte gedankenverloren auf den ledernen Einband.

»Das hatte ich vergessen. Es hat sogar eine kleine Narbe hinterlassen.«

Jamie schwieg, und Glenna war ihm dankbar.

Ihr Erinnerungsvermögen war gut. Die Fähigkeit, nur ein, zwei Zeilen eines Tagebucheintrags lesen zu müssen, um sofort wieder an Ort und Stelle zurückversetzt zu werden, hatte sie sich vor langer Zeit angeeignet.

Trotzdem gab es Details, die ihr ab und zu entfielen.

In letzter Zeit immer öfter.

Dorothy vergaß ständig Dinge. Das gehörte zum Älterwerden dazu, sagte sie immer. Nur dass Glenna dieses Älterwerden nicht gewohnt war. Auch mit hundertsiebzehn Jahren nicht.

›Ich glaube, das Telefon klingelt, Bonnie.‹

Glenna runzelte die Stirn. Es war unmöglich, dass Jamie das Telefon von der Rezeption im Erdgeschoss bis hier hoch hören konnte.

Doch sie stutzte, als sie es selber ebenfalls hörte.

Sie legte das Tagebuch auf den Beistelltisch und stemmte sich aus dem Sessel.

»Das kann doch nicht sein«, murmelte sie und öffnete die Tür der Bibliothek.

Erst da realisierte sie, dass das Klingeln nicht vom Telefon des Stewart-Hauses stammte, sondern von ihrem Mobiltelefon.

Sie hastete in ihre kleine Küche und zog sämtliche Schubladen auf, bis sie das Gerät fand.

Sie kannte die Nummer auf dem Display nicht, aber das wunderte sie nicht. Sie hatte nicht viele Kontakte gespeichert. Und nicht viele Leute hatten überhaupt ihre Nummer.

Perplex starrte sie auf das vibrierende Gerät in ihren Händen, bevor sie die Überraschung endlich abstreifte und den Anruf entgegennahm.

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