Leseprobe Maschinenwahn

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Kapitel 1

Gewohnheitsgemäß wischte Samuel die kurze Klinge am weißen Laken ab, während er seinen Blick über den Körper auf dem Tisch vor ihm wandern ließ. Ab und zu dachte er daran, Augenblicke wie diese auf Fotos zu bannen und eine Sammlung anzulegen. Wenn ihn abends die Langeweile plagte, könnte er sie hervorholen und sich damit ablenken. Aber er wusste, dass er in echte Schwierigkeiten geraten würde, sollten die Bilder in falsche Hände geraten.

Nicht immer gelangen ihm Meisterwerke wie heute. Das lag mitunter daran, dass er nur selten mit hervorragendem Material wie diesem arbeiten durfte. Samuel trat um den Tisch herum und ging am Kopfende in die Hocke, um sein Kinn neben dem Gesicht der Zwanzigjährigen zu platzieren. Ihre halblangen dunklen Haare kitzelten an seinem Ohr, doch er ignorierte es. Aus dieser Perspektive war es perfekt. Ihr regloser, in ein weißes Hemd gehüllter Körper schien vollkommen, doch Sam wusste es besser.

Nur mit Mühe riss er sich von den vereinzelten roten Bluttupfern auf dem Gewand los und betrachtete die langen nackten Beine. Sie ergänzten sich einwandfrei und sahen aus, als seien sie schon seit Jahren nebeneinander hergegangen.

Wenn bloß ihre Brüste nicht wären, dann könnte ich die Stelle sehen, wo …

Sam schoss in die Höhe und schüttelte abrupt den Kopf. Er durfte sich nicht immer so in seiner Arbeit verlieren. Während er einen scheuen Blick auf das Gesicht der Frau warf, kaute er nervös an seiner Unterlippe herum. Seine Patientin war noch betäubt und Sam hoffte, dass sie noch tief genug schlief, um nichts von ihrem aufdringlichen Arzt mitzubekommen.

Als er wieder stand, konnte er die feine Naht am rechten Oberschenkel sehen und ein stolzes Lächeln umspielte seine Lippen. Eine wirklich gute Arbeit. Und das Bein Ich will nicht wissen, wie viel es gekostet hat. Genaugenommen wusste er, wie viel es gekostet hatte, immerhin hatte er es selbst auf dem Schwarzmarkt besorgt. Aber er hatte keine Ahnung, wie viel eines frisch aus der Fabrik kostete. Es war makelloses Material. Zum einen hoch funktional mit der neuesten Cyberware ausgestattet und zum anderen so naturgetreu, dass er zuerst dachte, er halte ein menschliches Bein in den Händen.

Vergnügt trat er durch die Sterilisationskammer, streifte die Latexhandschuhe und Atemmaske ab und setzte sich an den Computer. Seine Finger glitten über die projizierte Tastatur, als er den Bericht fertigstellte und in Gedanken die Coins zählte, die er für den Auftrag erhalten würde. Zuerst musste aber das echte Bein aus dem Gefrierschrank verschwinden.

Er wandte den Blick auf die Frau hinter den durchsichtigen Plexiglaswänden. Sie war jung und das Bein im Schrank unversehrt. Sam schüttelte den Gedanken ab. Es gab eine Menge Gründe seine Körperteile durch Cyberware zu ersetzen. Dass die Regierung diese Meinung nicht teilte, war nicht sein Problem. Abgesehen davon, dass seine Arbeit deshalb als illegal galt. Das hielt Sam aber nicht ab, das Geld mit all den wohlhabenden Leuten zu verdienen, die auf künstliche Gliedmaßen oder Organe versessen waren. Arbeiterschutz und all die sonstigen Argumente dagegen konnten ihm dabei herzlich egal sein. Falsch. Sie mussten ihm sogar egal sein, damit er sich bei seiner Arbeit nicht selbst im Weg stand.

Zwei Stunden später holte ein Mann in einem dunklen Anzug das Mädchen ab. Sam überreichte ihm den Bericht und löschte diesen von seinem Speicher, nachdem er die Bestätigung der Bezahlung erhalten hatte. Er fragte sich ein weiteres Mal, wie der Vater des Mädchens darauf gekommen war, ausgerechnet Sam zu wählen. Sein Ruf war nicht schlecht. Vielmehr war er inexistent. Die Reichen und Schönen von Zürich empfahlen sich gegenseitig andere Chirurgen, die es mit dem Gesetz nicht so genau nahmen und Sam blieben die unsauberen Arbeiten mit minderwertigerem Material. Andererseits bedeutete ein unbekannter Arzt, wie er einer war, auch mehr Diskretion. Wenn Samuel ehrlich war, spielte es keine Rolle. Für ihn war es so oder so nur ein Job, mit dem er sich über Wasser hielt. Wobei er nicht abstreiten konnte, dass der handwerkliche Aspekt ihn nach wie vor begeisterte.

Plötzlich spürte er ein Ziehen im rechten Bein und stöhnte. Dabei fiel sein Blick verstohlen auf einen der Medizinschränke.

»Nein«, sagte er zu sich selbst. »Heute gewinnst du nicht.«

Er rieb mit der Handfläche über das schmerzende Knie, bevor ihn ein heller Klang aus den Gedanken riss. Er setzte sich an den Computer und akzeptierte den Telefonanruf auf seiner Geschäftsleitung. Die Videoübertragung war deaktiviert und offenbar kam ein Stimmenverzerrer zum Einsatz. Weder dies noch die Tatsache, dass der Anruf anonym reinkam, war etwas Neues.

»Doktor Meyer?«, fragte die tiefe Stimme.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Ich habe eine Patientin für Sie. Eine Liste mit den gewünschten Modifikationen wurde Ihnen soeben zugesandt.«

Sam öffnete das Dokument, das gerade eingegangen war. Anscheinend beanspruchte sein Kunde nicht das erste Mal einen Arzt wie ihn. Zumindest redete er nicht lange um den heißen Brei und wusste, wie die Sache ablief. Als sich die Liste auf dem Bildschirm öffnete, wurde Sams Hals trocken und er riss die Augen auf.

»Doktor?«, fragte die Stimme.

Sam räusperte sich und setzte sich gerade hin, auch wenn sein Kunde ihn nicht sehen konnte.

»Das ist eine ganze Menge.«

»Korrekt.«

Sein Blick schweifte über die Einzelheiten und die Typenbezeichnungen der einzelnen verlangten Cyberware-Module. Alles robuste Ware und neueste High-Tech, die nicht einmal im Ansatz als menschliches Körperteil getarnt war. Vor Sams Auge bildete sich das Bild einer Person, die kaum noch als Mensch erkennbar war. Ein Cyborg, wie sie heute inoffiziell genannt wurden. Bei dem Gedanken verkrampfte sich sein Magen.

»Es wird eine Weile dauern, bis die Ware besorgt ist.« Er konnte den Skrupel in seiner eigenen Stimme hören.

»200.000«, lautete die knappe Antwort.

»Wie bitte?«

»200.000 Coins für eine saubere und diskrete Erledigung der Arbeit.«

Nun verlor Sam jegliche Haltung und rutschte beinahe vom Stuhl. Mit der Hand wischte er sich den plötzlich austretenden Schweiß vom kahlrasierten Schädel. Seine Gedanken rasten, als er versuchte, die ungefähren Kosten für die Cyberware zusammenzurechnen und sie dann von der angebotenen Summe abzog. Es bliebe immer noch genug Geld, dass er sich ein halbes Jahr ohne Aufträge durchbringen könnte. Er ballte seine Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Diesen Vorgang wiederholte er dreimal, bevor er sich zutraute, ohne Zittern in der Stimme zu antworten.

»Ich brauche drei Monate, um die Ware zu besorgen.«

»Sie haben zwei.«

Sein Kunde hörte sich nicht an, als wäre dies ein diskutierbarer Vorschlag. Sam nickte und sein virtuelles Gegenüber musste das Schweigen wohl als Zustimmung deuten.

»Die Akte wird Ihnen zugesandt. Sie erhalten zu einem späteren Zeitpunkt genaue Angaben zur Operation.«

»Danke«, sagte Sam, doch der Kunde hatte die Verbindung bereits unterbrochen.

Wieder machte ihn sein Computer auf eine neue Datei aufmerksam, doch vielmehr bannte die Angabe rechts oben im Bildschirm Sams Blick. Sein Kontostand war soeben um 100.000 Coins angestiegen.

Obwohl der Schmerz in seinem Bein vergessen war und er seine zitternden Hände mit drei weiteren Faustbewegungen beruhigte, sprang Sam auf und öffnete den Wandschrank. Er packte die Dose, die zuvorderst auf dem Regal stand, schüttelte zwei der Pillen in die Handfläche und schluckte sie ohne Wasser herunter.

Kapitel 2

Die Cyberware in der kurzen Zeit zu besorgen, hatte sich als nicht gerade einfach herausgestellt. Sam wusste, dass er für einiges davon mehr bezahlt hatte, als er hätte aushandeln können. Es blieb aber immer noch eine Menge Coins aus der Vorauszahlung übrig, sodass er dem Geld nur wenig nachtrauerte.

Am Morgen vor der Operation blätterte er ein weiteres Mal die Akte der Frau durch, die all diese Kostbarkeiten erhalten sollte. Viele Dinge, vor allem über ihre Person, waren geschwärzt und auch sonst war das Dokument nicht sehr informativ. Natürlich konnte er alles entnehmen, was er brauchte: Blutgruppe, Krankheiten, bisherige Operationen und so weiter. Was ihn die Augenbrauen zusammenziehen ließ, während er über die Angaben scrollte, war, dass diese 35 Jahre alte Frau bisher noch keinerlei Cyberware in sich trug. Eine Tatsache, die Sams Skrupel entfachten. Menschen reagierten unterschiedlich auf neue fremde Körperteile. Einige brauchten minimale Zeit, um sich daran zu gewöhnen, für andere bedeutete es eine massive psychische Belastung. Es gab solche, die irre wurden und versuchten, sich den Fremdkörper gewaltvoll zu entfernen. Ein weiterer Grund, warum die Regierung kein Unterstützer von derartigen Veränderungen an einem eigentlich gesunden Körper war. Seine Patientin schien jedoch in guter Verfassung zu sein. Außerdem war er nicht ihr Leibarzt, sondern erledigte bloß einen Auftrag und fertig. Er hatte keinen seiner Kunden je wieder gesehen und das würde auch mit ihr der Fall sein.

Drei kraftvolle Klopfer an der Tür brachten Sam ins Hier und Jetzt zurück. Er strich den Ärztekittel glatt, fuhr sich noch einmal über den Backenbart und öffnete. Ein Mann in einem bodenlangen grauen Mantel trat mit schnellen Schritten ein und rauschte an Sam vorbei. Ihm folgten vier Männer, die eine Liege zwischen sich trugen. Darauf, unter einem weißen Tuch, lag zweifelsfrei ein regloser Körper.

Sam beobachtete schweigend, wie sich der enge Vorraum seines Operationssaals füllte, bis der erste Mann vor ihn trat. Er war deutlich kleiner als Sam und von japanischer Abstammung, soweit er das anhand seiner Gesichtszüge einschätzen konnte. Die schwarzen langen Haare trug er in einem Knoten auf dem Kopf und erst als er den hochstehenden Kragen des Mantels ablegte, konnte Sam sein ganzes Gesicht sehen. Unschön verwachsene Verbrennungsnarben zierten seine linke Gesichtshälfte und in den Augen blitzte Cyberware. Diese musste erstklassiges Material sein, denn sie war nur schwer zu erkennen, aber für einen Profi wie Sam trotzdem durchschaubar.

»Wir vertrauen auf Ihr Können, Doktor«, sprach der Mann leise und sein Blick verriet, dass er keine Komplikationen duldete. Der Kloß in Sams Hals wurde größer. Er überragte den Mann um einen guten Kopf, doch er verspürte keinerlei Lust sich mit ihm anzulegen. Er nickte und deutete auf den Körper auf dem Tisch. »Sie wurde bereits narkotisiert?«

»Nur sediert. Normales Schlafmittel.«

Ein kaum merkliches Lächeln trat auf die dünnen Lippen des Japaners und er berührte Sam sanft am Arm.

»Keine Angst, Doktor. Sie weiß von der Operation und hat eingewilligt. Sie wollte nur nicht bei vollem Bewusstsein hierhergebracht werden.«

Sam stand es in keiner Weise danach, hier genauer nachzufragen. Mit einem Fingerschnippen des Japaners trat ein Mann nach dem anderen aus dem Zimmerchen nach draußen. Ihr Boss folgte ihnen schweigend und Sam blieb alleine mit der Patientin zurück.

Er schüttelte die unangenehme Begegnung von sich und zog sich um, bevor er mit der Rollbahre in die Sterilisationskammer trat. Entkeimt trat er dann in den Operationsbereich, wo er zuerst eine Weile damit beschäftigt war, all seine Hilfsapparate in Stellung zu bringen. Alleine zu operieren, war keine einfache Aufgabe. Einen Assistenten konnte sich Sam jedoch nicht leisten. Immerhin war die Technik so weit, dass die meisten unterstützenden Tätigkeiten von Maschinen übernommen wurden.

Sam schwenkte den Blick über das bereitliegende Besteck, welches ihm ein sprachgesteuerter Arm reichen konnte und überprüfte die Monitore. Dann faltete er das leichte Tuch über seiner Patientin zurück und legte den Kopf der Frau bis zu den Schultern frei. Feuerrotes Haar kam zum Vorschein, in der Mitte gescheitelt, links kurz geschoren und rechts bis zu ihrem Kinn reichend. Die Farbe leuchtete beinahe grell in Kontrast zu ihrem blassen Gesicht.

Sam atmete noch einmal tief durch und begann mit den Vorbereitungen. Er legte der Frau eine Gesichtsmaske auf, um die Sauerstoffzufuhr zu erhöhen. Dann rollte er die Decke an ihrer rechten Körperhälfte zur Seite und desinfizierte ihren Arm, bevor er einen Katheter und die notwendigen Infusionen anhängte. Als er die Kanüle in die Vene schob, stöhnte die Frau kurz auf und verzog das Gesicht. Sachte spritzte Sam das Narkosemittel ein und wartete, bis sie in einen traumlosen Schlaf sank. Nachdem er die Atemmaske entfernt hatte, führte er den Trachealtubus durch ihren Mund ein und warf einen Blick auf den Prüfmonitor. Die Werte waren in Ordnung und offensichtlich befand sich die Frau bereits in Vollnarkose.

»Legen wir los, Sara«, sagte er dann, mehr zu sich selbst.

Ihr Name war auf den Unterlagen geschwärzt gewesen, doch Sam mochte es, während der Operationen mit seinen Patienten zu sprechen. Und für ihn sah sie wie eine Sara aus. Bevor er das Skalpell das erste von vielen Malen ansetzte, untersuchte er ihren Körper. Er tastete die Beine und Arme ab, drückte gegen die Bauchwand und Brust und befühlte schlussendlich ihr Gesicht. Die Akte stimmte. Kein einziges Stück Cyberware. An ihrer linken Schläfe befand sich immerhin ein ConnectGear für den Zugang zur virtuellen Realität – ein schmales, kupferfarbenes Metallplättchen direkt unter der Haut. Der Körper der Frau war durchtrainiert und Sam zweifelte keine Sekunde lang, dass sie ihn mit einem Schlag ihrer muskulösen Arme niederstrecken könnte. Ein gesunder, gestählter Körper. Und Sam würde ihn Stück für Stück auseinandernehmen.

Er hatte seine Favoriten, wenn es darum ging, Cyberprothesen anzubringen. Menschliche Augen zu ersetzen, gehörte definitiv nicht dazu und aus diesem Grund wollte er dies als Erstes hinter sich bringen.

Es fiel Sam immer schwer, die vergangene Zeit einzuschätzen, wenn er am Operationstisch stand. Ungefähr zwei Stunden musste er bereits gearbeitet haben, als er die letzten Handgriffe am rechten, künstlichen Auge vornahm. Ein beißender Geruch, der auf einmal in seine Nase drang, zwang ihn dazu, sich vom Kopf der Frau zu lösen. Ein Blick auf die verschiedenen Überwachungsmonitore sorgte dafür, dass das Blut aus seinem Gesicht wich. Dunkler Rauch kräuselte sich über einem der Geräte und das Ausbleiben von Blinklichtern auf der Digitalanzeige, führte dazu, dass sich Sams Innereien zusammenknoteten. Mit zwei Schritten war er bei der Maschine und identifizierte deren Aufgabe. Ein Stöhnen entwich ihm, als seine Hand dem dünnen Schlauch folgte, der im Arm der Patientin verschwand. Der Schlauch war leer. Wie lange schon kein Narkosemittel mehr hindurchfloss, vermochte Sam nicht zu sagen.

Ein unterdrücktes Husten ließ ihn herumfahren. Auf dem Operationstisch zuckte der Kopf der Patientin hin und her, während ihr Körper mit Würgen und Keuchen gegen den Tubus in ihrem Rachen ankämpfte. Sam stolperte vor Schreck rückwärts und warf dabei den Beistelltisch mit den medizinischen Werkzeugen um. Ein Scheppern erklang und die Frau drehte ihren Kopf zu ihm um. Sam starrte in das schmerzverzerrte Gesicht seiner Patientin und konnte beobachten, wie die Panik überhandnahm. Sie drehte den Kopf zurück, ihre Hände tasteten nach dem Fremdkörper in ihrem Mund. Sam wollte vorstürmen, um zu verhindern, dass sie den Schlauch herauszog, sein Fuß erwischte jedoch das zu Boden gefallene Besteck und knickte ein. Mit rudernden Armen stürzte er Richtung Metalltisch, wo er hart aufschlug, bevor er von Schwärze umfasst wurde.

Fremde Hände fassten ihn grob an und schüttelten ihn. Irgendwoher ertönten unterschiedliche Stimmen und eine davon schrie ihm direkt ins Ohr. Mit Mühe zwang er sich die Augen zu öffnen, doch nur ein verschwommenes Bild eröffnete sich ihm. Er kniff sie wieder zusammen und wollte einen zweiten Versuch starten, als er weggestoßen wurde und sein Kopf auf dem Boden aufschlug. Nun tanzten kleine Lichter durch das Schwarz, das ihn umgab.

»Wo ist sie?«, sagte eine der Stimmen. Bedrohlich, kreischend, schmerzend.

Sam zwang zuerst sein rechtes Auge auf, es war geschwollen, dann das linke, dieses war verklebt. Ein dumpfer Schrei drang über seine Lippen, als er sich auf die Unterarme stützte und zur Seite drehte. Sein Rücken berührte die kühle Wand des Labors, während er sich in eine sitzende Position kämpfte.

»Was …«, murmelte er, wurde aber sofort unterbrochen.

Die schemenhafte Gestalt von vorhin kniete vor ihm hin und packte grob seine Schultern.

»Wo – ist – Sie?«

Der Japaner atmete schwer und die Worte fanden nur mühsam einen Weg aus seinem Mund, den er verkrampft zusammengepresst hielt.

Wo ist die Frau? Und wo kommen auf einmal all die Leute her, die meinen Operationssaal auseinandernehmen?

Sam fuhr mit den Händen über die Stelle, wo er aufgeprallt war. Anhand der Schwellung und des getrockneten Blutes schätzte Sam, dass dieser Augenblick schon eine Weile her sein musste. Ein Tritt in die Hüfte holte ihn aus seinen Gedanken.

»Ich weiß es nicht«, zischte Sam unter Schmerzen und war erstaunt, dass ihn seine Stimme nicht verließ. »Sie ist mitten in der Operation aufgewacht.«

»Aufgewacht?« Der Japaner war wieder dem Kreischen nahe.

»Ja«, antwortete Sam, während er ein Schaudern unterdrückte. »Der Narkosemonitor ist ausgefallen.«

Der Mann griff nach der Metallschale auf dem Boden und schleuderte sie mit einem Schrei in Richtung seiner eigenen Leute. Duckend brachten sich diese in Sicherheit, verzogen aber keine Miene. Der Japaner wandte sich wieder an Sam. Sein Kopf war feuerrot.

»Du findest sie. Du bringst sie hierher zurück und beendest deine Arbeit.«

Seine Augen duldeten keinen Widerspruch und alles, was Sam zustande brachte, war ein schwaches Nicken.

»Wenn sie entwischt, finde ich dich und presse eigenhändig das Leben aus dir raus. Ich hoffe, wir verstehen uns.«

Sams Brust zog sich schmerzhaft zusammen und es fiel ihm auf einmal schwer zu atmen. Der Japaner wartete keine Antwort ab, sondern drehte sich um und stürmte mit wehendem Mantel aus dem Labor. Seine Leute folgten ihm auf dem Fuß. Sam saß weiterhin auf dem Boden und starrte zur Tür. Es vergingen Minuten, vielleicht sogar Stunden, bevor er seine zitternden Arme hob und sich am Rand des Waschbeckens über ihm hochzog. Vier tiefe Atemzüge und kaltes Wasser im Gesicht sorgten dafür, dass sein Herzschlag sich beruhigte. Noch traute er seinen Beinen nicht zu, eigenmächtig zu stehen. Im rechten Knie pulsierte es schmerzhaft und Sam spürte förmlich, wie sich die Cyberware darin zurechtzurücken versuchte. Die Prothesen sollten eigentlich keine Schmerzen verursachen und sie durften auch nicht derart anfällig sein. Zumindest, sofern man das richtige Material verwendete und einen Profi ranließ. Vor zehn Jahren hatte sich Sam kein richtiges Material leisten können und er war damals weit davon entfernt gewesen, ein Profi zu sein.

Mit verzerrtem Gesicht massierte er seinen Oberschenkel. Die Praxis war ein Schlachtfeld. Die Werkzeuge lagen über den Boden verstreut und Blut besudelte den Operationstisch und den Boden daneben. Mehr Blut, als bei dem kurzen Eingriff hätte fließen sollen. Mit einer Handbewegung an seinen Kopf überprüfte Sam, wie viel der getrockneten Flüssigkeit seine eigene sein konnte. Sein Operationssaal war auf alle Fälle derart kontaminiert, dass er es vergessen konnte, in nächster Zeit wieder hier zu operieren. Seufzend trat er durch die Schleuse und wusch seinen verklebten Schädel. Er desinfizierte die Platzwunde und legte ein Stück Gaze darüber. Dann trat er auf die Wand neben seinem Computer zu, ließ seine Iris scannen und wartete, bis die getarnte Tür zur Seite glitt.

Der kleine Nebenraum war der Ort, wo Sam lebte. In einer Nische hinter einer weiteren Schiebewand lag seine dünne Matratze, doch Sam ignorierte die aufsteigende Müdigkeit. Er wandte sich zu dem kleinen Kühlschrank und griff nach dem Wasserkanister darin. Doch er zögerte und umfasste schließlich eine Dose Bier. Erst als die Hälfte davon durch seine Kehle geflossen war und er sich auf dem Plastikstuhl niedergelassen hatte, brach die Bedeutung der Situation über ihn herein.

Wo zur Hölle bin ich hier hineingeraten?

Für einen kurzen Moment zog sich seine Brust zusammen, doch er schwemmte das Gefühl mit dem restlichen Bier weg. Seine Nerven entspannten sich ein wenig und das Dröhnen im Schädel ließ nach. Seine Hand fasste bereits zum Griff des Kühlschranks, dann zog er sie zurück. Ein Bier konnte seine Sinne klären, zwei würden sie wieder vernebeln. Und er brauchte einen klaren Kopf. Noch einmal spielte sich der Tag vor seinem inneren Auge ab.

Das Mädchen mit dem geschwärzten Namen war zu ihm gebracht worden, betäubt. Sie erwachte während der Operation, panisch, doch nicht so sehr verwirrt, dass sie nicht hätte abhauen können. Oder hatte jemand sie geholt? Wurde sie entführt? Aufgewacht war Sam, als sein vermeintlicher Kunde ihn besucht und seine Praxis demoliert hatte. Die Frau war verschwunden und wenn er sie nicht wiederfand, würde ihn sein Arbeitgeber töten. Soviel zur momentanen Situation. Könnte schlimmer sein. Wenn auch nicht viel schlimmer. Es war nicht die erste Todesdrohung, die Sam erhalten hatte. Auch nicht die erste, die er ernst nahm. Mit einem Schaudern erinnerte er sich an die Waffe an seiner Schläfe nach einer verpatzten Operation. Bisher hatte sich aber alles mit einer kleineren oder größeren Menge Coins regeln lassen. Irgendetwas sagte ihm, dass die Sache dieses Mal anders lag.

Als das Pulsieren der Schwellung über seinem Auge weiter zunahm, bewegte sich Sam zurück in die Praxis und warf sich zwei weitere Tabletten ein. Bei dem tastenden Griff nach seinem Telefon, bemerkte er, dass seine Manteltasche zerrissen war. Wütend schob er die Gegenstände im Chaos seines Labors mit den Füßen über den Boden, doch das Gerät lag nicht unter ihnen. Es gab nur eine Möglichkeit, wo es sich befinden konnte. Mit trockener Kehle fasste er nach einer der halbgeöffneten Schubladen und zog sie mit Kraft zu sich. Wo sein Revolver hätte liegen sollen, klaffte eine genauso gähnende Leere wie in seiner Manteltasche.

»Scheiße!«

Eine Weile starrte er auf den blanken Stahl der Schublade, dann streifte er den Mantel ab und ließ ihn fallen. Mit drei Schritten erreichte er die Tür, schnappte seine Lederjacke und verließ das Schlachtfeld. Draußen fiel ihm als Erstes eine weitere eingetrocknete Blutlache auf. Mit wem sich die Frau oder ihre Entführer sonst noch angelegt hatten? Sam hoffte inständig, es war einer der Lakaien des Japaners und keiner seiner Nachbarn. Er hielt den Atem an und setzte über die rote Pfütze hinweg.

Er hatte nur zwei Möglichkeiten: Entweder er fand die Patientin so schnell wie möglich, oder er musste dafür sorgen, dass er in Nullkommanichts von der Bildfläche verschwand. Den Weg der zweiten Variante war er vor fast zehn Jahren schon einmal gegangen und dies war mit gewissen Umständen verknüpft gewesen, die ihn vermutlich zwingen würden, Zürich zu verlassen. Wie auch immer er sich entschied, es gab nur einen Kerl, der ihm im Moment helfen konnte.

Leseprobe: Maschinenwahn
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