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Kapitel 1
Die schallende Ohrfeige versetzte Oldarn zurück in seine Vergangenheit als ungezogenes Kind. Er schwieg verbissen und rieb sich die brennende Stelle, blickte aber nicht auf.
»Wird es von nun an so laufen, Junge?«, donnerte sein Vater. »Du versteckst dich hier drin vor allem und jedem, um ihren Blicken aus dem Weg zu gehen?« Als Oldarn keine Antwort gab, sprach Anbert weiter. »Du bist ein Feigling. Du hattest weder den Mumm, die Dokumente zu fälschen noch getraust du dich jetzt, dazu zu stehen.«
»Es wäre falsch gewesen zu lügen«, protestierte Oldarn.
»Falsch?« Anberts Stimme wurde lauter und nahm einen schrillen Unterton an. »Weißt du, was es bedeutet, wenn wir die Weide verlieren?«
Er wusste es. Keine Dokumente bedeutete kein offizieller Besitzanspruch. Kein Besitzanspruch hieß, die Forderungen Lemthals waren gerechtfertigt.
»Lemthal kann Anspruch auf die Weide Hohenmarch erheben«, murmelte er als Antwort.
»Das ganze Tal ist damit gefährdet«, ereiferte sich Anbert. »Ohne unsere Erzeugnisse von der Weide müssen die Weiler des Schachtals diese in Altenmatt am Markt erwerben. Die Preise dort sind horrend!«
Nun begann sein Vater, zu gestikulieren. Oldarn hatte ihn selten so aufgebracht erlebt. Er beschloss, ihn ohne Unterbrechung weiterreden zu lassen.
»Spirosgrund hätte keine Existenzgrundlage mehr. Wir müssten alle fort.«
Oldarn spürte ein Stechen in seiner Brust. Er wollte nicht fort von Spirosgrund. Das Dorf war alles, was er kannte.
»Wie hätte ich wissen sollen …«, begann er, wurde aber sogleich von Anbert unterbrochen.
»Du musst es wissen! Du bist mein Sohn. Du solltest einst Ammann von Spirosgrund werden. Das wird nun nie geschehen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte Anbert zur Tür. Bevor er den Gasthofsaal verließ, wandte er sich noch einmal zu Oldarn um.
»Vermutlich ist es auch besser so.«
Diese letzten Worte verstärkten den Schmerz in Oldarns Herz, sodass er kurz nach Luft rang. Alleine saß er im Saal des Widders, wandte den Blick zum Kopfende des Tisches, wo zuvor sein Vater gesessen und die Ratsversammlung geleitet hatte. Wo er eigentlich bestimmt war, irgendwann einmal zu sitzen.
Für den ältesten Sohn des Dorfvorstehers war etwas anderes nie infrage gekommen. Was, wenn es nicht so weit kommen würde? Was, wenn Spirosgrund unterging und er sich an einem anderen Ort niederlassen müsste? Was sollte er dort tun?
Mit einem Gefühl, als hätte er Steine im Magen, wurde sich Oldarn einmal mehr bewusst, dass er zu nichts anderem taugte, als zu dem, was sein Vater ihm bisher beigebracht hatte.
Als die Wirtstochter eintrat, um die aufgetischten Becher einzusammeln, erhob sich Oldarn und bewegte sich auf schwachen Beinen zum Ausgang. Den vorwurfsvollen Blick des Mädchens auf sich spürend, nahm er den Hinterausgang des Gasthauses, um den Leuten auf dem Dorfplatz nicht begegnen zu müssen.
Draußen atmete er die feuchte Herbstluft ein und ließ den kühlen Wind durch sein schwarzes, kurzes Haar fahren. In der Ferne spielte jemand den Pichel. Die tiefen, weichen Klänge, die durch den langen Hals des Horns mit gebogenem Fuß drangen, dröhnten kilometerweit durch das Tal und ließen Oldarn angenehm schaudern. Eine Weile stand er einfach nur da und genoss es, denn diese Musik interessierte sich nicht dafür, welche Probleme die Menschen plagten.
Sein Blick schweifte über die Berggipfel und blieb am umstrittenen Berghang hängen. Dort oben lag Hohenmarch, die Weide, von der Spirosgrund so abhängig war wie die Ziege vom Klee.
Wie kann ein ganzes Tal derart an einen solch kleinen Fleck Erde gebunden sein?
Doch die eigentliche Frage lautete, wie es ihnen gelingen würde, diesen zu behalten.
Oldarn schüttelte unwirsch den Kopf, spazierte vom Gasthaus und dem Dorf weg. Er setzte sich an den klaren Bach, welcher in Richtung Westen floss.
Automatisch holte er das Messer hervor und griff nach einem Stück Holz, das in der Nähe lag.
Während er zusah, wie Laub und seine abgeschnitzten Späne auf dem eiskalten Wasser aus dem Tal getragen wurden, fragte er sich, was aus ihm werden würde, falls Spirosgrund die Weide verlöre.
Er war ein scheuer, zurückhaltender Mann, der es mit seinen knapp dreiundzwanzig Jahren noch nicht einmal geschafft hatte, eine Frau zu finden. Er mochte nicht das sein, was die Mädchen als begehrenswert bezeichneten, doch er war auch kein Scheusal. Seine Mutter hatte immer gesagt, wie sonderbar seine kristallblauen Augen zu seinem schwarzen, struppigen Haar wirkten, doch sie hatte es nie böse gemeint. Er war kein Arbeiter. Dafür war er zu dünn und zu schwächlich gebaut. Seine drei Brüder waren alle untersetzt und stark, wie ihr Vater. Oldarn selbst kam eher nach seiner Mutter.
Bisher war klar gewesen, dass er sich in den nächsten Jahren eine Frau suchen würde. Seit fünf Generationen war das Amt des Ammanns in den Händen ihrer Familie, immer weitergegeben an den Ältesten. Nicht vererbt, sondern gerecht und in im Vertrauen vergeben durch den Rat.
Wenn sie Hohenmarch verlören, so müsste er sich immerhin um seine Nachfolge keine Sorgen mehr machen.
»Darf ich?«, erklang eine Mädchenstimme hinter ihm und zauberte ein Lächeln auf Oldarns Gesicht.
»Natürlich, Pedra«, sagte er und rutschte zur Seite.
Eine zierliche Frau mit rotblondem, strohgleichem Haar und Sommersprossen setzte sich neben ihn. Ihre Augen leuchteten in demselben Blau, wie seine es taten.
»Ist alles in Ordnung, Oldarn? Vater war ziemlich aufgebracht, als er nach Hause kam.«
Er atmete tief durch.
»Wir hatten eine Auseinandersetzung.«
Pedra betrachtete ihn auf ihre Art, von der sie wusste, dass sie ihm alles entlocken konnte.
Oldarns Lächeln hielt an. Seine kleine Schwester. Der Mensch, der ihn vollkommen in den Händen hielt und immer ganz genau erkannte, was in ihm vorging.
Er räusperte sich, während er den Blick wieder auf das Wasser richtete.
»Er sagte, dass ich niemals Ammann werden würde. Und dass dies auch gut sei so.«
Pedra blickte schweigend geradeaus zu den Berghängen. Es war ein lautes, wertendes Schweigen, das Oldarn nur allzu gut kannte.
»Was ist?«
Sie hob die Schultern, ohne ihn anzublicken.
»Was hast du erwartet?«
Empört holte Oldarn Luft, doch Pedra unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
»Im Ernst, Oldarn. Du hast Mist gebaut und du kannst nicht davon ausgehen, dass Vater das einfach so verzeiht.«
»Mist gebaut?«, stieß Oldarn hervor. »Ich habe die Wahrheit gesagt, als der Bote aus Lemthal hier war. Es gibt keine Besitzurkunde für Hohenmarch!«
Pedra wiegte den Kopf hin und her und bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick.
»Hättest du die Urkunde etwa gefälscht?«
»Oldarn. Dies hier ist Spirosgrund, unser Zuhause. Ohne Hohenmarch haben wir nichts. Und das setzt du aufs Spiel.«
Die Worte fühlten sich an, als hätte er eine Faust in den Magen bekommen. Pedra legte ihre Hand auf die seine.
»Ist dir die Wahrheit so viel wert?«
Eine beklemmende Kälte breitete sich in seinem Körper aus. Die eigentliche Wahrheit, die niemand sonst kannte, verbiss sich in seinem Verstand. Die Wahrheit, dass er gar nicht erst daran gedacht hatte, zu lügen. Es war ihm schlichtweg nicht in den Sinn gekommen, dass er Spirosgrund mit einem simplen, gefälschten Dokument all diese Probleme ersparen konnte. Nun tat er so, als sei ihm viel an der Ehrlichkeit gelegen und dass ihm sein Gewissen verbot, zu lügen. Dass sein Gewissen ihm jetzt erst recht keine Ruhe ließ, behielt er für sich.
Was ihn noch schwerer traf, war die Tatsache, dass sogar Pedra dachte, er hätte einen Fehler gemacht. Seine Schwester war das friedliebendste Wesen, das er kannte. Auch wenn sie als zweitältestes Kind mit vier Brüdern einiges ertragen musste, so war sie immer die Erste, die darauf pochte, ehrlich miteinander zu reden.
Pedra, deren Meinung er derart hoch gewichtete und die bisher immer hinter ihm gestanden hatte, worum es auch ging.
Oldarns Hals wurde trocken und er spürte, dass er mit den Tränen kämpfte.
Er hatte alles falsch gemacht. Seinetwegen würde Spirosgrund untergehen und das Leben der Bewohner des Schachtals so viel komplizierter werden.
»Dann hatte Vater recht«, meinte er mit belegter Stimme. »Es ist gut, wenn ich nie Ammann werde.«
Nun lachte Pedra und Oldarn drehte sich überrascht zu ihr um.
»Schwachsinn. Du wärst ein guter Ammann.«
»Ach ja? Warum habe ich dann nicht die richtige Entscheidung getroffen?«
Pedra schüttelte den Kopf.
»Jeder macht Fehler.«
»Ja«, meinte Oldarn verbittert. »Aber wenn Vater der Meinung wäre, dass ich für den Posten geeignet bin, dann hätte ich ihn schon längst von ihm übernommen.«
Diesen Gedanken trug Oldarn schon seit einiger Zeit mit sich herum. Er erledigte viele Dinge, die früher sein Vater getan hatte. Er verwaltete die Viehbestände und teilte das Land auf die einzelnen Sennen auf. Er unterhielt das Archiv und hatte den Überblick darüber, was mit welchem Nachbardorf gehandelt wurde. Jedoch ließ ihn sein Vater weder die Ratsversammlungen leiten noch die Steuern abrechnen. Wenn die Eintreiber ins Dorf kamen, so hielt sich Oldarn stets im Hintergrund und Anbert regelte die Sache. Beweis genug, dass der Ammann seinem Sohn diese Dinge nicht zutraute.
»Du solltest dich hören, Bruderherz. In deinem Selbstmitleid bist du blind«, rief Pedra aus und warf einen Stein in den Bach. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, während er das aufspritzende Wasser beobachtete.
»Du glaubst wirklich, dass Vater dir den Posten nicht abtritt, weil er dich für ungeeignet hält?«, fuhr sie fort. »Du kennst den alten Mann. Der wird sich noch an seinem Stuhl festkrallen, wenn er auf dem Sterbebett liegt. Er hat Angst.«
Nun horchte Oldarn auf.
»Angst? Wovor?«
»Unnütz zu sein.« Pedra blickte ihm tief in die Augen. »Genau wie du.«
Eine Weile lang herrschte Schweigen und Oldarn hörte die Worte einige Male in seinem Geist widerhallen. Seine größte Furcht war es tatsächlich, keinen Wert für das Dorf zu besitzen. Wenn er schon keine schweren Säcke tragen konnte oder Kühe schlachten wollte, so musste er immerhin als Verwalter etwas taugen. Den Menschen das Leben einfacher machen.
Und sein Vater? Wenn Oldarn seinen Posten heute übernehmen würde, was würde Anbert dann tun?
»Wenn du den Sitz nicht einforderst, wird er die Arbeit so lange machen, wie er nur irgendwie kann.«
Pedra erhob sich und strich ihren Rock glatt. Dann legte sie ihre Hand auf seine Schulter und drückte sie leicht, bevor sie davonging.
Oldarn blickte ihr nach. Menschen einzuschätzen war schon immer eine von Pedras Stärken gewesen. Es war ihr stets gelungen, ihre jüngeren Brüder so zu manipulieren, dass diese machten, was ihre Schwester wollte. Es war nur wahrscheinlich, dass sie dies auch mit ihm selbst oder ihrem Vater tat.
Seufzend nahm Oldarn Messer und Holz wieder zur Hand.
Er müsste den Ammannssitz nur einfordern. Tief in seinem Innern wusste er, dass dies der Wahrheit entsprach. Jedoch gab es jemanden, der dieser Sache im Weg stand, und das war Oldarn selbst.
Die Arbeiten, welche sein Vater übernahm, waren diejenigen, die er verabscheute. Er wollte sich nicht mit den Soldaten des Kaisers herumschlagen und über die Steuern verhandeln. Außerdem wusste er genau, dass die Räte ihm noch nicht zuhören würden, sollte er an der Stelle seines Vaters sitzen. Er wollte, dass Anbert diese Dinge weiterhin erledigte.
Mit einem bitteren Lächeln drehte er das hölzerne Schaf in seinen Finger, das er geschnitzt hatte.
Vielleicht war er das. Das einfältige, naive Tier, das ohne die leitende Hand seines Hirten nicht einmal den Heimweg fand. Das Lamm, das gerne der Leithammel wäre, dem der Mumm dazu jedoch fehlte.
Oldarn steckte Messer und Schaf in seine Taschen und erhob sich. Während er die Späne von der Hose klopfte, warf er einen letzten Blick zu den Berggipfeln, dann machte er sich auf den Rückweg ins Dorf.
Kapitel 2
Es vergingen zwei Tage, in denen Oldarn die Worte von Pedra und seinem Vater immer wieder durch den Kopf gingen. Er hatte kein Auge zugemacht, kaum etwas gegessen, denn je näher die Ankunft des Boten aus Lemthal rückte, desto unruhiger wurde das ganze Dorf. Und desto mehr wütende Blicke erntete er.
Am späteren Nachmittag betrat Oldarn den Saal des Widders, wo die restlichen Ratsmitglieder versammelt saßen. Er nahm seinen gewohnten Platz ein und bedachte den Gesandten aus Lemthal mit maßnehmenden Blicken. Der Fremde war groß und schlaksig mit kantigem Gesicht. Er schien etwas älter zu sein als Oldarn und strahlte eine aufdringliche Präsenz aus, bevor er auch nur ein Wort gesagt hatte.
Als alle Platz genommen hatten, läutete der Ammann die Glocke.
»Willkommen in Spirosgrund, Conrat. Ich hoffe, deine Reise verlief angenehm.«
Der Fremde nickte lächelnd und strich sein dunkles Haar aus dem Gesicht.
»Ich denke, wir wollen uns nicht mit Höflichkeiten aufhalten, also kommen wir zur Sache«, fuhr Anbert fort. »Wie du weißt, existieren keine Dokumente bezüglich der Eigentümerschaft der Weide, jedoch nutzen wir sie schon seit vielen Generationen und berufen uns somit auf das Recht der Gewohnheit.«
Conrat nickte kurz und schüttelte sogleich den Kopf.
»Wie du sagst, gibt es keine Dokumente. Und genau aus diesem Grund erheben wir Anspruch auf Hohenmarch. Die Lage lässt keinesfalls den Rückschluss zu, dass die Weide euch anstelle von uns gehört. Ihr habt sie lange genug genutzt ohne das offizielle Recht dazu.«
Oldarns Sitznachbar erhob die Stimme.
»So holen wir uns dieses Recht eben ein. Sprechen wir unserem Schirmherrn vor und lassen ihn entscheiden.«
Conrat schüttelte abermals den Kopf.
»Es ist Herbst. Bis man sich am Hof um eine solche Lappalie kümmert, ist der nächste Sommer längst vorüber. Außerdem …« Nun blickte er die Runde. »Wollen wir wirklich Kaiser Fridrek über eine solche Sache urteilen lassen?«
Ein zustimmendes Gemurmel erhob sich. Ures Schirmherr, Kaiser Fridrek von Trinakria, hielt sich bisher auf angenehme Weise aus den Angelegenheiten der Bauern heraus und keiner wollte, dass sich dies änderte. Bis auf die vermaledeiten Steuern ließ er die Bevölkerung in den Seitentälern weitgehend unbehelligt. Einzig in die Geschäfte von Altenmatt, Ures Hauptort, mischte er sich ein. Was den Kaiser wirklich interessierte, war so oder so der Gebirgspass im Süden von Ure.
»Was schlägt Lemthal vor?«, warf der Ammann in den Raum, nachdem das Gemurmel erstorben war.
Conrat erhob und reckte das Kinn.
»Einen Wettkampf. Mit Debattieren werden wir keine Lösung erzielen. Bei einem redlichen Wettstreit kann man sich wegen des Resultats nicht uneins sein.«
Die Stimmen erhoben sich wieder. Oldarn machte in dem Gemunkel unterschiedliche Meinungen aus, während er versuchte, sich eine eigene zu bilden.
Ein Wettkampf um Hohenmarch? Würde sein Vater dem zustimmen? Anbert war ebenfalls glücklich darüber, dass das Gesetz des Kaisers hier nicht viel Gewicht hatte und die Bauern ihre Angelegenheiten unter sich regeln konnten. Doch wäre ein offizieller Entscheid des Kaisers nicht handfester und langfristiger?
Nach einer Weile verstummten die Stimmen. Alle Blicke richteten sich wie gebannt auf den Ammann. Dieser war in sich gekehrt in seinem Stuhl zurückgesunken. Oldarn kannte seinen Vater und las die Unschlüssigkeit in seinem Gesicht.
»Wie soll dieser Wettkampf aussehen?«, fragte Anbert.
Conrat breitete die Hände aus.
»Dies bleibt auszumachen. Da von uns der Vorschlag stammte, sind wir bereit, eure Ideen zur genauen Umsetzung zu hören.«
Der Ammann nickte.
»Gut. Wir werden uns besprechen. In der Zwischenzeit ist für dich ein Bett hier im Widder bereitet worden.«
Er läutete die Glocke.
»Ein Wettkampf? Du willst es wirklich riskieren, unsere Weide bei einem Wettkampf zu verlieren?«
Acher war nicht der Einzige, der aufgebracht gestikulierte.
»Was bleibt uns anderes übrig? Irgendwie müssen wir uns einigen und mit Reden sind wir bisher nicht weitergekommen«, meinte der Ammann seufzend.
Insgeheim gab ihm Oldarn recht. Nur durch Palavern würden sie zu keiner Übereinkunft gelangen.
Etwas lustlos schob er das Gemüse mit Siedfleisch auf seinem Teller hin und her und ließ sich verschiedene Disziplinen durch den Kopf gehen.
»Also, was steht zur Auswahl?«
»Schwingen.«
»Faustkampf?«
»Steinwerfen.«
»Bockmist!«, erklang es von der unteren Tischhälfte. »Merkt ihr denn nicht, wie wir mit diesem Wettkampf über den Tisch gezogen werden?«
Oldarn hob den Kopf und sah, wie Darion, ein enger Freund seines Vaters, aufgestanden war.
»Kennt ihr die Brüder von Lemthal nicht? Die Glaris-Brüder?«
Schweigen erfüllte den Raum und Darion fuhr fort.
»Die drei Brüder sind die kräftigsten Burschen, die ihr je gesehen habt, das sage ich euch. Da können wir hinstellen, wen wir wollen.«
»Aber unser Lunz ist auch ein starker Junge.«
»Wenn ich es euch doch sage. Gegen die drei Brüder kommt keiner an.«
Oldarn erkannte, wie sein Vater innerlich zusammensank.
»Dann sind wir verloren.«
»Nicht unbedingt.« Oldarn zog die Blicke aller Anwesenden auf sich. Es war das erste Wort, das er in der Sache hervorbrachte. »Es gibt Wettkämpfe, die keine Stärke erfordern. Laufen zum Beispiel.«
Er erntete zustimmendes Murmeln.
»Wohl wahr. Aber wen stellen wir für unser Dorf auf? Wir dürfen keine Niederlage riskieren.«
Wieder Murmeln.
»Starke Männer haben auch starke Beine«, warf einer in die Runde.
»Vielleicht können wir einen von außerhalb finden«, meinte Darion mehr zu sich selbst. »Wir brauchen den schnellsten Läufer, den Ure zu bieten hat.«
»Das heißt, jemand von uns muss so einen suchen«, folgerte der Dorfammann. »Und das bald.«
Vor Oldarns Augen erschein das Bild der Holzspäne, wie sie auf dem Bach fortgetragen wurden. Fort von diesem Ort in Richtung des Haupttals von Ure. In seiner Tasche fühlte er das hölzerne, einfältige Schaf.
»Ich gehe.«
Die Worte bildeten sich wie von alleine in Oldarns Mund. Wieder setzte für kurze Zeit Schweigen ein.
»Du?« Das Wort seines Vaters triefte vor Skepsis. »Du hast unser Tal noch kein einziges Mal verlassen, Oldarn.«
»Ich werde gehen. Ich finde einen Läufer.«
Selten war er von einer Idee überzeugter gewesen als heute. Er musste weg von diesem Ort, wo ihn die Anschuldigungen und das schlechte Gewissen langsam erdrückten. Er musste fort und dafür sorgen, dass Spirosgrund seine Weide nicht verlor. Wenn er das vollbrachte, dann wäre seine Schuld getilgt und er konnte sein bisheriges Leben weiterführen. Vielleicht endlich eine Frau finden. Eine Familie gründen.
Außerdem würde er Ure sehen. Wenn Anbert mit den anderen nach Altenmatt zog, blieb Oldarn immer als sein Stellvertreter zurück.
Die Gemeinschaft war verstummt. Jeder schien sich seinen Teil zu denken. Oldarn konnte den Zweifel offen in ihren Gesichtern lesen.
»Was ist?«, warf er mit lauter Stimme in die Runde. Sein Herz begann schneller zu pochen. »Jemand wird gehen müssen. Und ich bin offenbar mehr als nur entbehrlich.«
Eine Art der Bedrückung machte sich breit, die Oldarns Vater nach einer Weile zähneknirschend durchbrach.
»Das bist du nicht. Ich bin auf deine Hilfe hier angewiesen.« Er fasste nach der Glocke, um weitere Diskussionen abzuwürgen. »Ich denke darüber nach. Außerdem werde ich die genauen Details mit Conrat aushandeln. Wir treffen morgen Abend erneut zusammen.«
Oldarn war wütend und erkannte sich fast nicht wieder. Normalerweise war er ein ausgeglichener Mann. Einige sagten, er sei beinahe teilnahmslos, was allerdings nicht stimmte. Er war nur der Meinung, dass man seine Gedanken nicht jedem mitteilen musste, wenn es genügend andere Leute gab, die das taten.
In den letzten Tagen hatten sich jedoch mehr Frustration und Verzweiflung angestaut, als er zugeben wollte. Das Gespräch mit seinem Vater war der berüchtigte letzte Tropfen gewesen.
»Keiner von uns kennt sich außerhalb unseres Tales genauer aus, also bin ich gut wie jeder andere.«
Sein Vater schob sich langsam ein Stück Käse in den Mund, während die Mutter heißes Wasser aufkochte. Schon auf dem Weg nach Hause hatte der Ammann beharrlich geschwiegen und erst in ihren vier Wänden zugelassen, dass dieses Thema zur Sprache kam. Auch wenn Oldarn eher einen Monolog führte denn eine Diskussion.
Vor Erregung zitternd stützte er sich auf der Tischkante ab.
»Du glaubst, dass ich es nicht schaffe.« Er trat einen Schritt auf seinen Vater zu. »Du glaubst, dass ich versage und dass dein Sohn endgültig dafür verantwortlich sein wird, dass wir Hohenmarch verlieren.«
»Unsinn«, murmelte sein Vater. Es hörte sich in Oldarns Ohren keinesfalls überzeugend an.
»Aber du siehst das so«, antwortete er nüchtern.
Ohne ein weiteres Wort suchte er sein Schlafzimmer auf. Die Geschwister waren alle verheiratet und wohnten im Dorf verstreut oder hatten eigene Zimmer angebaut, sodass Oldarns Strohmatte das Einzige war, das auf einen Bewohner schließen ließ. Der Rest des Raumes wurde von Regalen mit kleinen und großen Holzschnitzereien eingenommen. Bald würde hier wieder Platz geschaffen, sobald der Winter mehr Brennholz forderte.
Oldarn setze sich auf das Stroh und ließ den Blick über seine Werke schweifen. Ein großer Teil davon war in den letzten Tagen und Wochen entstanden, fiel ihm auf. Die meisten Schnitzereien stellten Tiere dar, doch es gab auch Blumen oder Bäume. Ab und zu hatte er sich an der Nachbildung eines Berges versucht, scheiterte jedoch immer daran, dass er nicht wusste, wie er die Rückseite formen sollte.
Wenn er fortginge, würde er vielleicht erfahren, wie die Berge von hinten aussahen.
Es klopfte an der Tür, welche sich sogleich öffnete. Schweigend setzte sich seine Mutter neben ihn. Wenn man sie anschaute, war es offensichtlich, dass Pedra ihre Tochter war.
»Du willst wirklich gehen?«, fragte sie nach einer Weile zaghaft.
Oldarn nickte, jedoch nicht so überzeugt, wie er es wollte. Aus dieser einfachen Frage konnte er so viel herauslesen. Er würde seiner Mutter viel Leid bereiten, wenn er das Dorf verließ.
»Jemand muss es tun. Und ich bin schuld an der Sache.«
Seine Mutter legte ihren Arm um seine Schultern und er ließ es geschehen.
»Es ist niemandes Schuld.«
Er setzte bereits zu einer Antwort an, als sie weitersprach.
»Du hast deinen Großvater nie gekannt. Er ging fort, noch bevor ich deinen Vater heiratete.«
Oldarn nickte, denn sie hatte ihm schon von ihm erzählt.
»Er ging, als Großmutter starb.«
»Er ging fort, wohin, weiß ich nicht, um sein Glück zu versuchen. Gefunden hat er es nicht, also kam er zurück.«
Oldarn beobachtete seine Mutter, während sie sprach. Sie hatte den Blick auf einen Punkt an der Wand gerichtet und schien Erinnerungen nachzuhängen.
»Ich habe ihn nicht wiedererkannt. Er war in sich gekehrt und es war ihm anzusehen, dass er jeden Tag litt. Ich konnte nicht zu ihm durchdringen, um herauszufinden, was geschehen war. Ure hat ihn verändert.«
Ihre Stimme klang bitter und Oldarn wurde allmählich bewusst, weshalb seine Mutter stets so große Abneigung gegenüber allem Fremden hegte.
»Schlussendlich ist er wieder gegangen. Es dauerte fast neun Monate, bis ich erfuhr, dass er gestorben war. Neun Monate! Keinen hat es interessiert, dass er Verwandtschaft besitzt hier hinten.«
Sie schluckte schwer, um ihre Tränen zurückzuhalten. Oldarn legte nun seinerseits den Arm um sie, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Sie ließ sich trösten, löste sich dann von ihm und blickte ihm in die Augen.
»Die Welt da draußen verändert einen, Oldarn. Ich will nicht, dass du gehst.«
Ohne zu antworten, atmete er tief durch. Seine Mutter erhob sich schließlich und ließ ihn mit seinen Gedanken alleine.
Die Bedenken seiner Mutter waren gerechtfertigt. Es hatte eine Zeit gegeben, in der einige junge Leute ins Rusatal, das Haupttal von Ure, gezogen waren, da sie sich dort eine bessere Zukunft erhofften. Wenige waren glücklich geworden, so sagte man. Wie anders jedoch konnte es sein? Dort lebten auch Menschen, die arbeiteten, um zu essen.
Natürlich hatte sich die Situation in den letzten Jahren verändert. Als das Gebiet von Ure unter die direkte Schirmherrschaft Kaiser Fridreks gefallen war, dachten viele Bauern, dass sich der Einfluss des Adels verringern würde. Das Gegenteil trat ein. Die Soldaten des Kaisers markierten seither eine spürbare Präsenz in Ure. Spirosgrund erfuhr von diesen Dingen vor allem durch die Steuereintreiber.
Oldarn schüttelte den Gedanken ab. Was kümmerte ihn der Einfluss des Kaisers? Er wollte nur einen Läufer suchen und keinen Krieg beginnen.
Die Welt da draußen verändert einen.
Was war, wenn er sich verändern wollte? Vielleicht war es an der Zeit, jemand Neues zu werden. Jemand, der den Mumm hatte, seinen Vater auf seinem Posten abzulösen und seine Meinung durchzusetzen.
In Oldarns Bauch kribbelte es und seine Beine wurden unruhig. An Schlaf war nicht zu denken, also stand er auf und ging zum Fenster. Während er hinauskletterte, versuchte er sich daran zu erinnern, wann er das das letzte Mal getan hatte. Irgendwann, als er sich von seinen jüngeren Brüdern noch zu solchen Dingen hatte anstiften lassen, vermutete er.
Draußen umrundete er das Haus, wanderte eine Weile ziellos durch das Dorf. Es war kein Mensch unterwegs, jeder genehmigte sich sein Abendbrot. Als er den Widder passierte, streifte sein Blick das offene Fenster in der oberen Etage. Dort also logierte Conrat. Der Kerl, der die Existenz ihres Dorfes bedrohte. Oldarn war sich bewusst, dass der Bote noch weniger Verantwortung an der Sache trug als Oldarn selbst. Dennoch war sein Groll auf ihn groß.
Entnervt schüttelte er den Gedanken ab. Die Sonne versank hinter den Gipfeln, tauchte sie in ein rotoranges Licht. Oldarn kannte jeden dieser Berge. Das große Scherenhorn mit dem charakteristischen Doppelgipfel im Süden, der Weidstock und der Chinzerberg im Norden, der Balmhang und alle anderen Gipfel, Weiden und Gebirgsflanken. Er wollte sich nicht vorstellen, wie es ohne sie wäre. Die Soldaten des Kaisers, die zweimal im Jahr herkamen, verabscheuten die mächtigen Riesen. Sie fühlten sich von ihnen bedrängt und konnten nicht schnell genug wieder in ihr Flachland im Norden zurückkehren. Oldarn hingegen würde sich dort wohl schutzlos und nackt vorkommen. Die Berge waren seine Gefährten, seine Hüter, seine Heimat. Auch wenn er nicht zu den Sennen gehörte, die die Sommer auf ihren Bergweiden verbrachten, so liebte er sie dennoch innig.
Ohne es zu bemerken, hatte Oldarn das Ende des Dorfes erreicht, wo er reflexartig stehen blieb. Hinter einer Biegung um einen Felsen verschwand die Straße, die nach Altenmatt führte. Ure selbst war ein großes Tal, links und rechts von Bergen eingekesselt, im Norden von einem See und im Süden von einer unüberwindbaren Schlucht begrenzt. Unzählige Seitentäler, wie das Schachtal, zweigten davon ab. Zumindest hatte man dies Oldarn so erklärt. Unbewusst fühlte er das Holzschaf in seiner Tasche und fasste einen Entschluss.