Turing Bombe

Das Thema für den Monat August lautete Enigma. Alle weiteren Informationen zu Flash Fictions und viele weitere Geschichten sind hier zu finden: http://flashfiction.ch/ueber-uns/


Henry musterte den Fremden, der sich im Café umsah. Polyester-Anzug im Karo-Muster, Hosen mit leichtem Schlag, unter dem Jackett ein Rollkragenpullover. Der Mann war vielleicht zwanzig Jahre jünger als er selbst, irgendwo zwischen dreissig und vierzig. Henry setzte ein Lächeln auf und nickte, als ihre Blicke sich trafen.
»Mister Clarke?« Der Fremde streckte ihm die Hand entgegen und setzte sich. »Fitzgerald, mein Name. Wir haben telefoniert.«
»Freut mich.«
Fitzgerald holte ein Notizheft hervor, blätterte, bis er eine leere Seite fand, und faltete die Hände.
»Wie bereits erwähnt arbeite ich an einer Artikelserie über den Mathematiker Alan Turing, den Sie – wie mir zu Ohren gekommen ist – kannten.« Er hob fragend eine Augenbraue.
Henry nickte. »Ich habe Turing getroffen.«
Der Journalist machte sich eine Notiz. »Sie haben sich in Bletchley Park getroffen, nicht wahr? Wie sind Sie dort hingekommen …« Er wirkte, als wolle er etwas hinzufügen.
»Als Sohn eines einfachen Kaufmanns, meinen Sie? Nicht als Genie, wie alle anderen?«, ergänzte Henry und Fitzgerald schenkte ihm ein betretenes Lächeln.
Henry lehnte sich zurück. »Wie Sie und die restliche Bevölkerung inzwischen wissen, wurde Bletchley Park 1938 – als der Krieg nur noch eine Frage der Zeit war – zum Zentrum der Kryptoanalysten Grossbritanniens. Und natürlich war ich keiner von ihnen. Meine Brüder waren zu der Zeit in Frankreich stationiert. Ich jedoch …« Er tätschelte sein steifes Bein. »War nicht für den Krieg gemacht.«
»Bletchley Park war bis vor ein paar Jahren ›Großbritanniens bestgehütetes Geheimnis‹«, warf Fitzgerald ein.
»Meine Mutter kannte den ehemaligen Besitzer des Grundstücks. Es war immer schon schwer, Geheimnisse vor ihr zu bewahren.«
»Sie hat Sie also als Laufburschen nach B.P. gebracht?«
Henry nickte. »1938, als die ersten Kryptoanalysten die Arbeit aufnahmen.«
»Turing kam 1939 nach B.P. Erinnern Sie sich an diesen Tag?«
Henry schnaubte. »Das war der vierte September. Der Tag nachdem wir den Deutschen den Krieg erklärten. Ich glaube, wir alle erinnern uns.«
»Und an Turing?«
»Ich hatte den Mathematikern in Hütte sechs gerade frisches Papier gebracht, als man Turing dem Team vorstellte.« Das Bild prangte so frisch in seiner Erinnerung, als wäre es vom Tag zuvor. »Er war ein athletischer Mann, der körperliche Ertüchtigung schätzte. Kleidung und Haare gepflegt und anstandslos.«
An diesem Tag hatte er nicht gelächelt, erinnerte sich Henry. Doch Henry hatte ihn später lachen gesehen und es hatte ihn fasziniert. »Sein Blick war … klar. Fokussiert. Doch es schien, als läge ein Geheimnis hinter ihnen. Eine gewisse Traurigkeit vielleicht.«
Fitzgerald hielt im Schreiben inne und musterte ihn. »Sie sprechen auf seine Homosexualität an?«
»Sie sprechen auf seine Homosexualität an. Ich beschrieb meinen ersten Eindruck.«
Der Journalist tippte einige Male unschlüssig mit dem Stift auf das Papier.
»Homosexualität ist keine Straftat mehr, Mister Fitzgerald«, half Henry ihm aus. »Ich kann heute dazu stehen, ohne Gefahr zu laufen, chemisch kastriert zu werden wie Turing.«
Fitzgerald räusperte sich. »Ich wollte nicht persönlich werden.«
»Sie befragen mich zu meiner Beziehung zu Turing. Wie wollten Sie da nicht persönlich werden?«
Die Scham des Journalisten amüsierte Henry. Es war nur wenige Jahre her, als seine sexuelle Orientierung legalisiert worden war. Die Gesellschaft würde noch einige Zeit brauchen, um sich daran zu gewöhnen. Doch Fitzgerald fing sich schnell, vermutlich die Tugend eines Journalisten.

Sie sprachen über Turings Arbeit und wie sein Team versuchte, die von der Enigma-Maschine verschlüsselten deutschen Funksprüche zu decodieren. Wie er Tage und Nächte in Hütte sechs an seiner eigenen Kryptoanalysemaschine tüftelte. Wie er auf der Suche nach möglichen Klartextpassagen vergaß zu Essen und zu Trinken und wie Henry ihm öfters Wasser zur Seite gestellt hatte, ohne dass Turing es bemerkte.
»Sie sprechen in hohen Tönen von ihm«, meinte Fitzgerald.
»Ich bewunderte ihn sehr. Ich verstand nicht, was die Leute da wirklich taten, aber ich erkannte, wie brillant er war. Außerdem war er sehr freundlich mit gegenüber.«
Fitzgerald tippte wieder mit dem Stift auf das Papier. Eine Frage hing im Raum, doch der Journalist würde sie nicht stellen.
Nein, Henry und Turing unterhielten keine Liebschaft. Er hatte den Mann vergöttert. Ihn in Versuchung bringen zu wollen, wäre, als schmiege sich der Löwenzahn an die Rose. Abgesehen davon, dass Henry zu dem Zeitpunkt nicht einmal gewusst hatte, dass Turing und er sich ähnlicher waren als gedacht.
»Waren Sie in B.P. als die Turing-Bombe fertig gestellt wurde?«, fragte Fitzgerald stattdessen.
»Victory. Ich war dabei, als damit der erste Funkspruch entschlüsselt wurde.«
Der Stift fiel mit einem Klackern zu Boden. »Sie waren dabei?«
»Es war ein Zufall. Ich lieferte neues Schreibmaterial, als der erste erfolgreiche Versuch stattfand.«
»Wie war die Stimmung?«
»Es wurden Hände geschüttelt und man trank Champagner«, erinnerte sich Henry.
»Das ist alles?« Enttäuschung schwang in Fitzgeralds Stimme mit.
»Alles, woran ich mich erinnere. Mein Gedächtnis ist nicht mehr, was es war.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile, bevor Fitzgerald das Interview beendete und sich bedankte.
Später ließ sich Henry alles noch einmal durch den Kopf gehen. Er hatte Fitzgerald angelogen.
Seine Erinnerung war glasklar.
Henry hatte den Champagner gebracht und entkorkt. Dann hatte er sich ein Herz gefasst, Turing seine zittrige Hand entgegengestreckt und seine Gratulation ausgesprochen. Er, der zwanzigjährige Laufbursche, dem niemand wirklich Aufmerksamkeit zollte. Der wusste, dass das, was er für diesen Mann empfand, verwerflich und illegal war und dass es nie jemanden geben würde, dem er sich mitteilen konnte.
Turing hatte die Hand ergriffen, der Mund verzogen zu diesem seltenen, ehrlichen Lächeln. Er hatte ihm tief in die Augen geblickt.
Und auf einen Schlag hatte Henry gewusst, dass Turing es wusste.
Sie sprachen nie darüber. Jahre später verließ Turing B.P. und sie sahen sich nie wieder. Henry jedoch war dabei, als Turing der Orden des britischen Empires empfing und als Kriegsheld gefeiert wurde. Und er hatte verfolgt, wie dasselbe Königreich Turing verurteilte und in den Selbstmord trieb.

Sie hatten nie viel miteinander gesprochen, doch Henry hatte nach B.P. nie wieder dieses Gefühl von Verständnis gespürt wie an dem Tag, als Enigma bezwungen wurde.


Anmerkung: Die Charakteren von Henry Clarke und Fitzgerald sind frei erfunden und der Laufbursche von Bletchley Park entspricht in keiner Weise der Realität. An die historischen Gegebenheiten habe ich mich jedoch zu halten versucht.


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