Flash Fiction: Der Lauf des Lebens

Heute beginne ich mal etwas neues! Meine Schreibgefährtinnen Yvonne von Almen und Lucie Müller schreiben schon länger jeden Monat eine sogenannte Flash Fiction zu einem bestimmten Thema. Flash Fiction bedeutet eine Kürzestgeschichte mit maximal 1000 Wörtern. Diesen Monat (und hoffentlich auch die folgenden) werde ich mich diesem Projekt anschliessen. (Jeder darf sich daran beteiligen!) Das Thema für nächsten Monat stammt von Yvonne und soll lediglich auf einem Liedertext basieren. Mal sehen, was mir dazu einfällt.

Zuerst aber hier meine Kürzestgeschichte zum Thema „Traumfänger“:


Der Lauf des Lebens

Als Jan klein war, träumte er oft davon, später Bulldozer-Fahrer zu werden. Er wäre der beste Fahrer auf der ganzen Baustelle und tagein tagaus könnte er in altes Gemäuer hineinfahren, wie er es stets mit seinen Spielzeugautos und den Legogebäuden seines größeren Bruders tat.

Irgendwann verschwand dieser Traum, seine Eltern und Lehrer sagten immer, dass es das Alter und ganz gut so wäre. Jan selber wusste es nicht so genau.

Später, als seine älteste Schwester lernte Autofahren, träumte er davon, sich eines Tages einen Ferrari zu kaufen. Feuerrot, am liebsten mit auflackierten Flammen auf den Seiten. Der Wunsch war so groß, dass er sein Sparschwein diesem einen, dedizierten Zweck widmete und jede Woche sein übrig gebliebenes Taschengeld reinsteckte.

Doch eines Morgens erwachte er und bemerkte, dass die 155.85 Franken noch keinen Ferrari machten und er das Geld für seine zu hoch geratene Handyrechnung brauchte. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, dachte er, wusste aber genau, dass dies nur eine Ausrede war.

Als er zwanzig wurde, belebten die Bilder der Victoria’s Secret Models seine nächtlichen Fantasien und wenn er morgens erwachte, wusste er genau, wie seine Traumfrau einmal auszusehen hatte: Gross, blond, schlank.

Mit Dreissig heiratete er ein kleine Schwarzhaarige und verschwendete nie mehr auch nur einen Gedanken an die schlanke Blondine seiner Träume.

Mit 32 Jahren sehnte das junge Paar danach, ein Haus zu kaufen für sie und die Kinder, von denen das erste bereits unterwegs war. Wenn seine Frau nicht schlafen konnte wegen Komplikationen während der Schwangerschaft, blieben sie die ganze Nacht auf und zeichneten und planten ihr Heim auf dem Land. Sie steckten die Köpfe zusammen und dachten daran, was sie alles einbauen würden, wenn sie im Lotto gewinnen würden. Denn das war die einzige Möglichkeit, dieses Traumhaus zu finanzieren. Sie zogen einige Monate später in eine Eigentumswohnung am Rande der Stadt. Einen Lotto-Schein hatte keiner von ihnen je gekauft, die Chancen wären ja so oder so viel zu gering.

Als Jan vierzig wurde, nahm er seinen Mut zusammen und fragte seinen Chef um unbezahlten Urlaub, damit er seine Traumreise zu unternehmen konnte, einmal mit dem Motorrad nach China und zurück. Natürlich hatte der Chef recht, dass er im Sommer unmöglich fehlen konnte im Büro und seine Frau machte ihn außerdem auf die knappe Haushaltskasse und die gemeinsamen Ferien mit den Kindern aufmerksam. Nun ja, er war erst vierzig und der Osten lief ihm nicht davon.

Mit sechzig träumte Jan davon gemeinsam mit seiner Frau ein kleines Häuschen auf dem Land zu kaufen und dort den Lebensabend zu verbringen. Mit 61 wurde bei ihr Hautkrebs diagnostiziert und es war unumgänglich, dass sie in der Nähe eines Krankenhauses blieben. Es dauerte noch wundervolle zehn Jahre, bevor Jan sich von ihr verabschieden musste. Danach brachte er es nicht über sich, aus der gemeinsamen Wohnung, in der sie so viele glückliche Jahre verbracht hatten, auszuziehen.

Heute ist Jan 86. Es hatte immer gehofft zu Hause in seinem Bett zu entschlafen, wie es seine Frau getan hatte. Doch seine Kinder liessen nicht zu, dass er in seinem Zustand alleine zu Hause blieb. Also brachten sie ihn vor einigen Wochen ins Krankenhaus, wo sie ihn immer mal wieder besuchen.

Jan schaut aus dem Fenster, von welchem aus er an eine kalte Betonfassade blickt, und denkt über sein Leben nach. An die schönen Zeiten aber auch an all die Dinge, die er sich hatte vorgenommen und nie gemacht hat, an all die Träume. Plötzlich spürt er, dass er nicht mehr alleine im Raum ist. Er dreht den Kopf zur Seite und auf dem Stuhl neben ihm sitzt eine hochgewachsene Gestalt in einem langen, schwarzen Mantel. Ihr Gesicht ist von einem breitkrempigen Hut verborgen.

Jan lächelt, denn er weiss sofort, wer die Gestalt ist.

»Du bist es, nicht wahr?«, fragt er mit schwacher Stimme. »Mein Traumfänger.«

Nun wendet der Mann den Kopf zu ihm hin und Jan erschrickt, als er erkennt, dass es sein Vater ist. Doch nur eine Sekunde lang, dann nimmt die Figur das Gesicht seiner Mutter an. Danach das seiner Lehrerin. Seiner Frau. Seinem Chef und seinen Kindern. Seiner Ärzte.

»Das willst du mir sagen?«, will Jan wissen. »Dass all diese Leute, auch meine Liebsten, mich von meinen Träumen fernhielten?«

Ein letztes Mal ändert das Gesicht. Jetzt lächelt Jan.

»Ah ja«, sagte er langgezogen, gefolgt von einem tiefen Seufzer. »Natürlich.«

Wenig später schließt Jan die Augen und er weiss genau, dass das letzte Gesicht, welches er in seinem Leben sieht, sein eigenes ist.


Weiter Flash Fictions zum Thema „Traumfänger“:

„Traumfänger“ von Lucie Müller 

„Weisse Wände“ von Evelyne Aschwanden

„Von Schafen und anderem Getier“ von Yvonne von Almen

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Lucie
7 Jahre zuvor

Coole Geschichte. Sie erinnert mich an Brandon Flowers „clock was tickin'“!

Lucie
Reply to  Carmen Capiti
7 Jahre zuvor

haha genau. da konnte jemand wahrsagen. Die Geschichte regt toll zum Denken an, macht einem gar ein wenig melancholisch „schnüff“

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7 Jahre zuvor

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Yvonne
7 Jahre zuvor

Willkommen in der Flash Fiction Runde! 🙂

Deine Geschichte regt so richtig zum Nachdenken an und irgendwie krieg ich ein bisschen ein schlechtes Gewissen, weil auch den einen oder anderen grösseren Traum vor mir herschiebe … :>

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7 Jahre zuvor

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